Abendfüllende Filme, spannend und mit Tiefgang, müssen nicht fiktiv sein. Das wahre Leben schreibt bekanntlich die besten Geschichten. Dass dies so ist, zeigten wieder einmal die Macher und Macherinnen der 45. Duisburger Filmwoche. Das international renommierte Festival (10. bis 14.11.2021) stand in diesem Jahr unter dem Motto „Schichten“ – Schichten sind doppelbödig und so waren auch die Themen in diesem Jahr: es ging um Flucht, Migration, Soziales, Abstieg, Niedergang und Wandel. Meine Favoriten in diesem Jahr waren „Herr Bachmann und seine Klasse“ von Maria Speth und „We are all Detroit“ von Ulrike Franke und Michael Loeken.
An Schulen werden viele Bachmänner gebraucht
Über dreieinhalb Stunden gehören die Zuschauer im Kino zu einem Klassenverbands, bestehend aus Schülerinnen und Schülern der Klasse 6 b in der Georg-Büchner-Gesamtschule in der hessischen Stadt Stadtallendorf. Langweilig wird es den Zuschauern nicht, denn sie schauen dem Klassenlehrer Herrn Bachmann über die Schultern. Der Großteil der Klasse kommt aus Familien mit einer Migrationsgeschichte. Genauso wie die Stadt, in der in den 60er Jahren viele Gastarbeiter aus Italien, Griechenland und der Türkei kamen, um in den 50er und 60er Jahren im Unternehmen „Ferrero“ zu arbeiten. Herr Bachmann arbeitet seit siebzehn Jahren als Klassenlehrer in diesem Umfeld. Seine Klasse gehört zu einer Eingangsstufe. Die Schüler sind zwischen 12 und 14 Jahre alt und werden am Ende des Schuljahres in drei Schulzweige aufgeteilt. Herr Bachmann ist kein typischer Lehrer, der über das Lehramtsstudium in diese Schule kam. Er ist Quereinsteiger – zuvor war er Revoluzzer, Aussteiger, Bildhauer und Folksänger. Also perfekt für eine Klasse, die auf eine globalisierte Welt und auf eine Leistungsgesellschaft vorbereitet werden muss.

Musik schafft Brücken
Am Anfang des Films sehen die Zuschauer müde und abwesende Schüler. Wird es Bachmann schaffen, diese Schüler auf seine Seite zu bringen? Sind diese Schüler von ihrem Klassenlehrer überzeugt und vertrauen ihm? Sie scheinen zunächst lustlos auf ihren Instrumenten zu spielen. Wird Herr Bachmann es schaffen, diese „Meute“ über Musik für sich zu gewinnen? Ja, er schafft es – ohne Zweifel, denn dieser Mann ist authentisch. Für ihn ist jedes Kind wertvoll. Die Belange seiner Schüler liegen ihm am Herzen. Das spüren auch die Zuschauer und natürlich auch seine Schülerinnen und Schüler. Und die sind ihm sehr dankbar. Die Musik dient Herrn Bachmann als Kommunikationsmittel; sie ist Zugang zu jedem einzelnen Schüler. Selten sehen die Zuschauer Herrn Bachmann privat. Nach dem Feierabend trifft er sich schon mal mit einem Freund auf ein Bier oder er entspannt in der Schule kurz auf einem Sofa. Was sagt das uns? Auch wir hätten gerne so einen Herrn Bachmann als Klassenlehrer gehabt: Einen Lehrer, der unkonventionell eigene Wege geht und Lehrinhalte anders in seiner Schulklasse vermittelt. Die Regisseurin begleitet diesen Lehrer bis zum Ende des Schuljahres. Für Bachmann ist klar: Diese Schuljahr wird sein letztes sein. Auch in diesem Jahr hat er alles gegeben, er hat das Beste aus seinen Schülerinnen und Schüler herausgeholt. Die Klassenräume werden am Ende des Schuljahres geräumt, denn Herr Bachmann geht in Rente und packt sein Inventar zusammen. Weder Herrn Bachmann noch seinen Schülern fällt der Abschied leicht. Zum Schluss des Films sitzt der Lehrer alleine auf einem Stuhl in der leeren Klasse. Die Regisseurin räumt ihm im Moment des Abschieds Privatsphäre ein. Die letzte Einstellung zeigt ihn von hinten. Er weint.
Mein Fazit:
Wow, was für ein Dokumentarfilm! Trotz der Überlänge ist der Film sehr kurzweilig. Diesen Film kann man sich auch noch ein weiteres Mal anschauen, denn es gibt wirklich viel zu sehen und zu entdecken. Vielen Dank an Marie Speth für diesen wunderbaren Film!
„Herr Bachmann und seine Klasse“
Regie: Maria Speth
Länge: 217 Minuten
Deutschland 2021

Ein Werk, ein neuer Wagen
Was haben die Städte Bochum und Detroit gemeinsam? Beide Städte waren einst „Autostädte“ und haben sich durch den Wegfall eines Industriezweigs radikal verändert. Die Stadt Detroit wurde von der ganzen Welt bewundert, galt sie doch als Heimat der amerikanischen Autoindustrie und größte Autostadt weltweit. In der „Motor City“ siedelten sich Firmenzentralen von Ford, Chrysler und General Motors an. Über 70 Jahre war die Stadt eine blühende Metropole. Die Infrastruktur war komplett auf die Autoindustrie ausgerichtet. Fast jeder in der Stadt arbeitete für die Autoindustrie oder für Autozulieferer und war stolz darauf. Einst waren über 250 000 Menschen in Motor City beschäftigt. Doch seit 1950 hat die Stadt kontinuierlich über 60 Prozent seiner Einwohner verloren, 35 Prozent des Stadtgebiets sind unbewohnt. Die Stadt Detroit galt einst als Vorbild und so bemühte sich die Stadt Bochum die Produktionsstätten der Adam Opel AG Ende der 50er Jahre in die Stadt zu holen. Die einst zechenreichste Stadt im Ruhrgebiet litt besonders unter den damaligen Zechenschließungen und versuchte in den 60er und 70er Jahren andere Wege zu gehen. Der damalige Fachkräftemangel spielte der Stadt in die Hände. Im Jahr 1962 wurde das Opel-Werk in Bochum offiziell eröffnet. Bereits am ersten Tag lief der erste neuentwickelte Kadett vom Band. Damaliger Werbeslogan: „Ein neues Werk, ein neuer Wagen“.
Wandel mitgestalten
Aber auch Bochum konnte den Niedergang der Autoindustrie in ihrer Stadt nicht aufhalten. Der Regisseur Michael Loeken und die Filmemacherin Ulrike Franke begleiten den Niedergang des Opelwerks in Bochum und ziehen Parallelen zu Detroit. Sie arbeiten in ihrer Dokumentation mit Archivmaterial und lassen ehemalige Arbeitnehmer und Anwohner beider Städte zu Wort kommen. Beide Filmemacher fokussieren sich auf das Wesentliche – den Niedergang eines ganzen Industriezweigs und dem damit verbunden Wandel. Dabei haben sie immer die einzelnen Menschen im Blick, die von diesem Wandel betroffen sind. Herausgekommen sind emphatische Geschichten von Menschen, die eng verbunden mit den Automobilwerken in ihren Städten waren. Die Vermarktung des Bochumer Opelgeländes scheint erfolgreich und wird auch von den Amerikanern genau beobachtet. Auch in Detroit ist man dabei, „aufzuräumen“ und neue Wege zu finden.
Mein Fazit:
Dieser Film ging mir sehr unter die Haut. Mein Vater und mein Bruder haben viele Jahrzehnte in dem Opelwerk in Bochum gearbeitet und Opel als Arbeitgeber sehr geschätzt. Hier konnte man noch in die Lehre gehen und darauf hoffen, bis zur Rente zu bleiben. Bochum war lange Opel und die Bochumer waren, wie die Detroiter, stolz auf ihr Werk. Die Dokumentation berührt und ist filmisch sehr gut gemacht.
„We are all Detroit“
Regie: Ulrike Franke und Michael Loeken
Länge: 120 Minuten
Deutschland 2021